Wolf & Co.: Der Mensch muss den Umgang mit den zurückgekehrten Tieren erst wieder lernen
Wer zu einem Urner Zabig eingeladen wird, denkt wohl kaum an Gemüsestäbchen. Auch streunende Hauskatzen kann man nicht mit Zigerkrapfen füttern, damit sie die Singvögel und Blindschleichen in Ruhe lassen.
Urs Wüthrich, Biologe
Die Rückkehr von Wolf, Bär und Luchs in ihre inzwischen stark veränderten Stammlande führt nicht nur bei Jägern und Bauern zu heftigen Reaktionen. Die Debatten werden auch im Parlament geführt. Anliegen der Betroffenen sollen ernst genommen werden, doch andere Meinungen ebenso. Will man das Kind nicht mit dem Bad ausschütten, kann man sich auch Gedanken zum Nebeneinander von Tier und Mensch machen, welche ganz grundsätzlicher Natur sind. Hitzige Diskussionen und lautstarke Forderungen nach wolfsfreien Zonen zeigen vor allem eines: Der Mensch richtet sich noch immer nach dem biblischen Spruch «Macht euch die Erde untertan». So ist es ihm schon im Mittelalter gelungen, Steinbock, Rothirsch, Wolf, Wildschwein, Bär, Bartgeier und Luchs auszurotten. Der Steinadler wurde als Kindsräuber gnadenlos verfolgt, er hat nur knapp überlebt. Dem Fischotter wurde mit der Zerstörung seiner Lebensräume, der Belastung der Gewässer und durch Bejagung genauso der Garaus gemacht wie dem Biber, welcher ebenfalls als «fischähnliches Geschöpf» als Fastenspeise in den Kammern von Klöstern und Gutshäusern vorrätig gehalten wurde. Dabei handelten unsere jagenden Vorfahren oft aus purer Not. Wenn damals die dünnen Gämsbestände noch gewildert wurden, geschah dies in Zeiten der Armut und des Hungers. Kein solidarischer Mitbürger bezahlte die Schäden der Wolfsrisse, kein Steuerzahler vergütete durch Hirsche abgefressene Salatköpfe und griff Schafhaltern unter die Arme.
Konkurrenten und Werbeträger
Die verständliche Angst vor Konkurrenten ist rund um den Globus zu finden. Wenn in den Zuckerrohrplantagen Thailands die Elefanten herumtrampeln, in Indien hungrige Bengaltiger auf die deckende Nacht warten oder im Pampagras Südamerikas Pumas ihre Jungen mit Lamafleisch füttern, erfahren Menschen die Natur näher, als ihnen lieb ist. Doch unser Verhältnis zu Wildtieren könnte kaum zwiespältiger sein. Was wäre eine afrikanische Safari ohne Löwen, Nashörner und Elefanten? Mehrere afrikanische Länder haben das touristische Potenzial ihrer Natur erkannt. Auch in der Schweiz wirbt man mit einer längst vergangenen Heidi-Welt für Produkteketten und mit dem zurückgekehrten Steinbock für Ferienregionen.
Mythen und Märchen
Rom verdankt der Sage nach einer Wölfin seine Gründung, welche die Gründer Roms, Remus und Romulus, gerettet, gesäugt und grossgezogen hat. Auch führende Geschlechter der Turk- und Tatarenvölker leiteten ihre Herkunft von mythologischen Wölfen ab. Der Mongolenfürst Dschingis Khan war stolz auf seine Abstammung von einem Wolf, der vom Himmel herabgestiegen war, um eine Rehprinzessin zu heiraten. Im alten Ägypten galt der Wolf als Wächter der Grabstätten und des Totenreichs. Und wie steht es mit Gebrüder Grimms Rotkäppchen? In den letzten 500 Jahren ist in Europa kein Fall vom Frass eines lebenden Menschen durch einen Wolf belegt. Ein amerikanischer Journalist setzte vor etwa 50 Jahren eine Belohnung von 1000 Dollar aus, wenn ihm jemand den Beweis erbringen könnte, dass jemals ein gesunder, frei lebender Wolf einen Menschen angegriffen hat. Bis heute ist der Preis samt Zins und Zinseszinsen noch zu haben. Wollen wir wirklich eine aufgeräumte Erde? Wollen wir unsere vermeintlichen Konkurrenten loswerden wie den Tasmanischen Beutelwolf, dessen letztes bekanntes Exemplar 1936 in einem australischen Zoo starb?
Die Ahnen unserer treuen Begleiter
Die ersten Haustiere der Menschen waren Hunde. Üblicherweise datiert man die Domestikation von Wölfen auf einen Zeitraum von vor 10 000 bis 20 000 Jahren. Aber neuere Untersuchungen der DNA von Hunden und Wölfen beweisen, dass die erste Umwandlung vom Wolf zum Hund viel früher stattgefunden hat, nämlich vor über 100 000 Jahren. Aus diesen neuen Belegen geht auch hervor, dass Wölfe nicht nur einmal, sondern mehrmals domestiziert wurden und dass Hunde sich weiterhin mit wilden Wölfen kreuzten. Dies heisst, dass unsere uralte Gemeinschaft mit Hunden vielleicht eine wichtige Rolle in der Evolution des Menschen gespielt hat. So könnten Hunde entscheidend zu Fortschritten bei den menschlichen Jagdtechniken beigetragen haben, die vor etwa 70 000 bis 90 000 Jahren aufkamen. Schon früh wurden Hunde auch zur Bewachung menschlicher Siedlungen eingesetzt. Ihre Domestikation ging der Entwicklung des Ackerbaus voraus.
Jagdabenteuer in guter alter Zeit
1820 wurde in Isenthal der letzte im Kanton Uri umherstreifende Bär geschossen. Zwei Bärenpranken hingen als Trophäen vor dem Haus des damaligen Schützen, heute sind sie gegenüber der Post ausgestellt. Touristen erfahren auf dem Isenthaler Bärenweg alles über die erfolgreiche Jagd. An einer Fluh des Bockitobels konnten 1928 nach drei turbulenten Jagdtagen zwei Wildsaukeiler erlegt werden. Sie wogen zusammen 118 Kilogramm. Die Jagdbeute wurde anschliessend in Altdorf und Erstfeld zur Schau getragen. Am Samstag, 22. Dezember, wurde der Wildsaupfeffer von den rund 40 Jägern und einigen Geladenen im Hotel Goldener Schlüssel in Altdorf verspeist. Der Wildschweinpfeffer wurde kulinarisch umrahmt von einer Jägersuppe, Hubertuspasteten, Kartoffelstock und einer Torte «Weidmannsheil». 1946 wurden nochmals drei Wildschweine auf den Eggbergen gesichtet. Sie verzogen sich jedoch, bevor die Jäger zur Stelle waren. Eines der drei konnte schliesslich im Gebiet Evibach in Silenen erlegt werden. Im Dezember 1948 zeigte sich dann letztmals ein Wildschwein in Uri. Als sich 1853 letztmals ein Wolf in den Urner Bergen bemerkbar machte, veranstaltete man eine Treibjagd. Ein junger Bursche erlegte das Tier am Axenberg mit einem einfachen Schrotschuss. Uri war lange Zeit wolfsfrei!
Ansichten und Werte verändern sich
Wie viele Kubikmeter Holz wurden wegen dem Luchs vor dem Verbiss von Hirschen und Rehen gerettet? Wie viele kranke und geschwächte Wildtiere werden dank Luchs und Wolf erlegt, bevor sie qualvoll eines «natürlichen Todes» verenden? Raubtiere können zur Gesundheit und Fitness der übrigen Wildbestände beitragen. Es gibt Fragen, welche eine objektive Güterabwägung verlangen. Während früher Tanzbären auf dem Jahrmarkt zur Schau gestellt wurden, verschwinden heute Raubtiernummern und Elefantenparaden im Zirkus ebenso wie Delfinarien. Seaworld im kalifomischen San Diego stellte im Januar 2017 seine umstrittene Orca Showein. Sie soll durch ein neues Programm ersetzt werden, welches dem «natürlichen Verhalten» der Tiere näherkommt. Die Zuschauer sollen mehr über den Schutz der Schwertwale (= Killerwalel) lernen. Wie sehr sich Weltbilder ändern können, zeigen die unlängst dokumentierten Berichte über das Ausstellen von Menschen in den zoologischen Gärten Europas. Der Zoo Basel präsentierte zwischen 1879 und 1935 in 21 Völkerschauen Menschen verschiedenster Herkunft. Die vermeintlichen Wilden standen näher beim Tier als beim Menschen.
Auch Gemeinde- und Familienwappen, Hotelschilder, Orts- und Flurnamen erinnern an eine andere Zeit. So etwa Wolfbiel in Gurtnellen, Bärenmatt in Altdorf, Bärenboden in Erstfeld, Bärenfallen in Schattdorf. Bär als Möbelhaus tönt heute genauso einheimisch wie der Name einer Regierungsrätin. Selbst Wolfgang gilt nicht als Schimpfname. Amadeus Mozart trug ihn mit Stolz!
Suche nach tragbaren Lösungen
Statt nach der Erstellung des Nea- tTunnels den Röhrenblick durch das Spiegelrohr noch enger zu fokussieren, müssen wir eine umfassendere Sichtweise anwenden. Die Kora (Koordinierte Forschungsprojekte zur Erhaltung und zum Management der Raubtiere in der Schweiz) verfolgt ein Programm, welches sich mit Raubtieren wie Braunbär, Wolf, Luchs und Rotfuchs befasst. Es erarbeitet im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt auf wissenschaftlicher Grundlage umsetzbare Lösungen für die bestehenden Probleme im Zusammenhang mit diesen Tieren. Die Entwicklung der Raubtierpopulationen in der Schweiz wird überwacht, deren Lebensweise in Kulturräumen objektiverfasst, die Auswirkung auf andere Tiere und auf menschliche Aktivitäten formuliert. Konflikte müssen ernst genommen werden. Doch für komplexe Probleme gibt es oft keine einfachen Lösungen. Wir müssen den Umgang mit den zurückgekehrten Tieren aus der Perspektive der Stärkeren erst wieder lernen. Nur so können wir uns auch auf die Kilbispezialität «Chabis und Schaffleisch» weiterhin freuen.
Urner Wochenblatt, Samstag, 11. März 2017
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