Andermatt: Einzige Urner Alp, wo „offizielle“ Herdenschutzhunde eingesetzt werden.
Während in Isenthal Herdenschutzmassnahmen geprüft werden, sind in der Unteralp bereits erfolgreich Herdenschutzhunde im Einsatz . Die Schafe sind sicher, Wanderer und Biker sollten sich aber vorsehen.

Martina Tresch-Regli

Es ist kurz nach Mittag. Die Schafe ruhen sich aus. Einige suchen unter einem Felsen Schatten, andere liegen auf einer Kuppe, wo ein lauer Wind weht. In der Unteralp werden in diesem Jahr rund 1200 Schafe gesömmert. Wer einen orangen, engmaschigen Zaun rund um die Grossherde sucht, tut dies vergeblich. «Wenns eindunkelt, treiben wir die Schafe zusammen, damit sie über Nacht beisammenbleiben. Eingezäunt werden sie aber in der Regel nicht, nur wenns neblig ist», erklärt Michael Wiesiolek. Zusammen mit Heike Mönig hütet er die Schafe in der Unteralp. «Auch tagsüber schauen wir einfach, dass sie nicht zu weit hinauf oder auf Kuhweiden gehen», ergänzt die Hirtin. Ansonsten laufen die Tiere frei herum. Der Grund: «Die Hunde können dann besser arbeiten», sagt Michael Wiesiolek.

Anders als andere Hunde
Zwischen braunen, weissen und gescheckten Schafen ruhen sich auch die vierbeinigen Hüter aus. Es sind drei schneeweisse, grosse Hunde der Rasse Maremmano. Hündin Shakira richtet sich auf, als sie einen «Eindringling» erspäht. Trotz grosser Entfernung bellt sie unentwegt und geht auf die herannahende Gruppe zu. Eigentlich sieht sie ganz harmlos aus, «Shakira» wedelt sogar. Doch wohl bloss, weil sie die beiden Schafhirten kennt, die den Gast zur Herde fuhren. Mit jedem Schritt wird sie aufgeregter. Die anderen Wächter, «Krabat» und «Joya», liegen noch immer zwischen den Schafen und beobachten die Situation. Heike Mönig erreicht die Hündin, streichelt und tätschelt sie. Die Maremmano sind anders als die Hunde, die Heike und Michael sonst um sich haben. Ihre vier Border Collies sind fürs Treiben verantwortlich, die Herdenschutzhunde hingegen bewachen ausschliesslich. «Wenn die Herde weiterzieht, kundschaften die Maremmano die Gegend aus, sie treiben nicht», erläutert Mi- chael Wiesiolek. «Bisher klappt es mit ihnen ganz gut», fügt Heike Mönig an.

Aufgrund von Angriff 2013
Die Herdenschutzhunde in der Unteralp sind bereits den zweiten Sommer im Einsatz. Und das sind sie, weil 2013 ein Wolf mehrere Schafe auf den Alpen Etzli und Oberalp gerissen hatte. Ernst Vogel, der in der Unteralp jeweils seine rund 800 Schafe sömmert, hat sich daraufhin für Herdenschutzhunde entschieden und als neuer Hun- debesitzer den erforderlichen Kurs absolviert. Der Grossherde gehören ausserdem auch Schafe von Haltern aus Hergiswil, Schwarzenberg und Isenthal an – es sind jene Urner Schafe, die anfangs Juni vermutlich von einem Wolf angegriffen wurden. Nun verbringen sie den Rest des Sommers in der geschützten Herde. «Sie haben sich ziemlich schnell an die Hunde gewöhnt», so Heike Mönig. Die Schafe wurden zuerst im Tal an den Hund ge- wöhnt und erst danach auf die Alp getrieben. Das gleiche wird jeweils mit allen Schafen anfangs Sommer gemacht.

Leidenschaft entdeckt
Am 9. Juni begann der diesjährige Alpsommer für die Schafe in der Unteralp. Auf der ersten Weide wurden die. Tiere noch eingezäunt, da sich rundum Landwirtschaftsland befand. Seit einigen Tagen sind die Schafe weiter hinten im Tal, wo sie sich frei bewegen können. Die beiden Hirten haben ihren Wohnwagen zusammen mit ihren Schafen gezügelt. In ihm verbringen sie noch einige Wochen – weiter hinten im Tal ziehen sie dann in eine Alphütte. Die beiden Deutschen haben es sich in ihrer Bleibe gemütlich gemacht. Der Wohnwagen ist eingezäunt, ein Vorzelt spendet dem darunterliegenden Holztisch Schatten. An einer Wäscheleine baumeln Socken und getrocknete Blumen. Es ist für sie der dritte Sommer in der Unteralp und der vierte Alpsommer insgesamt. «Die Schweizer Gletscherberge gefielen uns schon immer», sagt Heike Mönig. Und weil beide selbst gerne Alpengipfel erklimmen, fanden sie irgendwann ihre Leidenschaft im Hüten von Schafen. «Eine Leidenschaft ist es tatsächlich. Nur des Geldes wegen würden wir den Job nicht machen», lacht die 43-Jährige. Den Sommer verbringen sie auf der Alp und den Winter auf der Winterweide mit den Schafen. Ihr Wissen haben sich die Hirten mit der Zeit angeeignet. Den Umgang mit den Herdenschutzhunden wurde ihnen vom Herdenschutz Schweiz vermittelt.

200 Hunde im Einsatz
Die Schafhirten gehen mehrmals täglich zu den Hunden, füttern und streicheln sie. Mindestens zweimal pro Woche, so fordert es der Bund“ muss ein Hirt den Kontakt zu Herdenschutzhunden suchen, sofern die Alp mit Futterautomaten ausgestattet ist. Diese und weitere Vorschriften gelten für die speziellen Hunde, die vom Bund jährlich mit 1200 Franken pro Tier unterstützt werden. So müssen beispielsweise in einer Alp mit Herden-schutzhunden sogenannte «Hinweistafeln Herdenschutzhunde» aufgestellt werden. Und wer vom Bund eine Unterstützung für seine vierbeinigen Hirten will, muss die Hunde von einem der 15 mandatierten Hundezüchtern des Vereins Herdenschutzhunde Schweiz einsetzen. Aktuell werden durch den Verein nur zwei Rassen gezüchtet. 250 «offizielle» Herdenschutzhunde gibt es schweizweit. Rund 200 stehen momentan im Einsatz – deren drei in Uri, in der Unteralp. «Theoretisch könnte jeder auf eigene Faust einen Herdenschutzhund irgendwo kaufen und einsetzen», erläutert Felix Hahn, Leiter Fachstelle Herdenschutzhunde auf Anfrage. «Diese sind aber vom Bund nicht anerkannt und werden folglich nicht unterstützt.»

Einmal Wolf gesehen
Der Einsatz der Herdenschutzhunde in der Unteralp hat sich bisher bewährt, es wurde noch kein Schaf gerissen. Gut möglich, dass die Hunde bereits Wolfsangriffe abgewehrt haben, erklärt Michael. «Einmal haben wir einen Wolf in der Unteralp gesehen. Der war aber gleich wieder weg», erzählt der 43’Jährige. Probleme hatten die beiden Schafhirten überhaupt noch nie mit Wölfen. Den Abschuss, entscheid in Isenthal können sie aber verstehen. «Man muss sich überlegen, ob man die Alpen so erhalten will, wie sie heute sind, oder ob einzelne aufgegeben werden sollen», sagt Michael Wiesiolek. Wolle man die Alpen mit kleinen Herden erhalten, sei eine Abschussverfügung in diesem Fall legitim. Jedoch sei ein Abschuss nicht gerechtfertigt, wenn ein Wolf hie und da einmal ein Schaf reisst. «Wölfe sind Wildtiere, die auch ein Recht auf Leben haben.» Dass in der Herde im Unteralptal trotz der Hunde einmal ein Schaf gerissen wird, ist nicht ausgeschlossen. «Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Regelmässig werden Herden angegriffen, bei denen Herdenschutzhunde im Einsatz stehen», hält Felix Hahn fest. Das Risiko, dass gleich mehrere Schafe gerissen werden, sei durch den Einsatz der Hunde aber stark minimiert.

Risiko: Vorfälle mit Menschen
Es besteht aber ein anderes Risiko beim Halten von Herdenschutzhunden: Schnapp- oder Beissvorfälle mit Menschen oder deren Begleithunden. «Jedes Jahr ereignen sich etwa zehn Vorfälle, davon rund ein Drittel mit Begleithunden», erläutert Felix Hahn. Während Begleithunde ab und zu auch gravierend verletzt werden, seien die Wunden bei Menschen glücklicherweise eher leicht. Gemäss Felix Hahn handelt es sich in rund der Hälfte der Fälle um blaue Flecken oder Kratzer, zur anderen Hälfte um Haut- und Muskelperforationen (Löcher durch die Eckzähne der Hunde). Zwar kam es in der Unteralp bisher noch nie zu einem Vorfall mit Menschen. «Aber wir hatten schon öfters heikle Situationen», erzählt Heike Mönig. Denn die Hunde können auch Wanderer als Bedrohung für ihre Herde ansehen, wenn diese sich nicht richtig verhalten (siehe Kasten). «Wir haben schon einen Zugang zu den Hunden. Doch wenn sie eine Gefahr sehen, können wir sie nur schwer abrufen», sagt Michael Wiesiolek. Wanderer sollten daher ruhig bleiben sowie Herde und Hunde möglichst wenig stören, rät Heike Mönig. «Und nicht bei der Herde ein Picknick macehen», sagt der Schafhirt scherzhaft. Auch das sei schon vorgekommen. Sorgen bereiten den beiden aber nicht nur die Wanderer. Es seien vor allem Biker, die oftmals mit grossem Tempo an der Herde vorbeifahren. «Das ist ganz schlecht, denn auf Geschwindigkeit reagieren die Hunde enorm», so Michael Wiesiolek. Hier fehle oft die Rücksicht: „Würden alle auf das Verhalten der Hunde achten, hätten wir sicherlich weniger Probleme.»

Kaum Alternativen zu Hunden
Gerade in „touristischen Gebieten schrecken die Schafhalter deshalb oftmals vor dem Einsatz der Hunde zurück. Vernünftige Alternativen zu Herdenschutzhunden im Sömmerungsgebiet gibt es laut Felix Hahn momentan aber nicht. Zwar können anstelle von Hunden auch Lamas oder Esel als Herdenschutztiere eingesetzt werden. Diese müssten nicht gefüttert werden und verursachten weniger Kosten. Allerdings akzeptiert der Bund Herden mit Lamas oder Eseln nicht als offiziell geschützt, da die Schutzwirkung dieser Tiere nicht mit der von Hunden vergleichbar sei. Bei einem Wolfsangriff werden Risse zwar vergütet, doch die gerissenen Tiere zählen nicht, wenn es um einen Abschuss geht – analog zu ungeschützten Herden. Auch das Einzäunen von Schafherden auf der Alp ist kaum praktikabel, hält Felix Hahn fest. «Daher macht auf vielen Alpen der Einsatz von Herdenschutzhunden Sinn, obwohl dies meist mit grösseren Umstellungen verbunden ist.» So sei es oftmals nötig, dass die Alpbewirtschaftung wegen der Hunde angepasst, also eine Umtriebsweide oder gar eine professionelle Behirtung eingeführt werden muss. «Wo der Einsatz von Hunden nicht möglich ist, müssen Schafherden wohl zusammengelegt oder die Alpen dürften früher oder später aufgegeben werden», vermutet Felix Hahn.

Die Sonne steht etwas tiefer. Die Schafe beissen jetzt herzhaft in die Alpengräser. Die Hunde hecheln, sind ruhig. „Es war sicher die richtige Ent- scheidung, hier Herdenschutzhunde einzusetzen, auch wenn diese Herde nie von einem Wolf angegriffen wurde», sagt Heike Mönig, während sie «Shakira ein letztes Mal tätschelt, bevor sie sich auf den Weg zurück ins Tal macht. „Wenn nämlich zuerst ein Schaf gerissen wird, bevor etwas unternommen wird, ist es eigentlich schon zu spät», ergänzt Michael Wiesiolek, der nun in eine Flanke steigt, um jene Schafe zu holen, die etwas zu weit hinaufgekraxelt sind. «Shakira bemerkt, dass die «Eindringlinge» weitergehen. Jetzt stellt sie sich wieder schützend vor ihre Herde. So aufgerichtet auf einem Felsen sieht sie doch Furcht einflössend aus. Sie bellt solange, bis sich die Gruppe entfernt hat. Dann kehrt der Wächter um und stapft zufrieden zurück zu seinen Schäfchen.

Urner Wochenblatt, Samstag, 25. Juli 2015