Der Aufruhr ist gross, als Fritz Ringwald am 18. Juli 1920 in Andermatt seine Stauseepläne vorstellt. Nicht alle im Urserntal sind den Plänen abgeneigt. Ganz anders 26 Jahre später.
Ralph Aschwanden
1920 steht Andennatt vor dem Untergang. Buchstäblich. Der Direktor der Centralschweizerischen Kraftwerke AG (CKW), Fritz Ringwald, plant einen Staudamm beim Urnerloch. 75 bis 90 Meter hoch soll die Mauer werden, der See ein Fassungsvermögen von bis zu 250 Millionen Kubikmetern Wasser haben. Fast das gesamte Urserntal soll. unter Wasser gesetzt werden. Am 18. Juli 1920 wagt sich Fritz Ringwald für einen Vortrag mit seinem Plänen erstmals nach Andermatt. Dort hört man ihm aufmerksam, aber mit zwiespältigen Gefühlen zu. In einem Bericht im UW wird über die denkwürdige Versammlung geschrieben. «Herr Ringwald sprach zurückhaltend und verpflichtete sich zu nichts», so der Urschner Korrespondent. «Der Redner schloss mit einem Appell an Opferwilligkeit und Vertrauen.» Davon allerdings wollen die Urschner wenig wissen. Sie treibt insbesondere die Frage um, ob es so ein Projekt überhaupt braucht – und was sie für ihr Land erhalten, sollte es tatsächlich soweit kommen. Schon am 18. Juli wird gemäss UW-Bericht aber klar: Widerstand ist vorprogrammiert. «Die Stimmung der überwältigenden Mehrheit war offensichtlich dagegen. Es wurde nicht abge- stimmt, aber Ursern gedenkt nicht unterzugehen. »
Gerüchte und Umsiedlungsideen
Der Versammlung vom 18. Juli vorausgegangen waren monatelange Diskussionen. Im Januar 1920 machen erste Gerüchte über den geplanten Stausee die Runde. Schon Ende Januar folgt die Bestätigung, dass die CKW der Regierung ein Stauseeprojekt unterbreitet hatten. Allerdings interessieren sich auch die SBB, das Militär sowie die Firma Escher Wyss für die Nutzung der Reuss. Das Urteil des UW von Ende Januar 1920: «Da die verschiedenen Interessenten einander auf diese Weise in die Quere kommen, wird mit einer baldigen Verwirklichung dieser Idee nicht zu rechnen sein.» Erst nach der Talgemeinde Ursern Ende Mai befasst sich die Öffentlichkeit wieder stärker mit der Stauseefrage. Dafür aber umso intensiver. Heftig wird darüber gestritten, wohin man die Urschner Bauern aussiedeln solle, da sie in «Neu-Andermatt» und «Neu-Hospentals wohl kein Kulturland zum Bewirtschaften mehr finden würden. Die Vorschläge reichen über Seedorf, den Urnerboden und Rothentunn bis hin zu Australien und Südamerika. Die Korporation Uri wie auch die Regierung in Schwyz lehnen aber eine Ansiedlung der Urschner Bauern ab. «Uns bliebe also die Wahl zwischen Indianern und Buschmännern», kommentiert ein Leserbriefschreiber die grotesk anmutende Situation. Sorgen machen sich die Talbürger über die Lawinengefahr für «Neu- Andermatt» oder den Einfluss des Stausees auf das Wetter. «Das Klima würde feucht und ungesund», hält ein Urschner in einem Bericht an das UW fest. Zudem werde es «nicht nur sieben bis acht Monate, sondern zehn Monate Winter sein».
Hoteliers dafür, Tal dagegen
Trotz aller Bedenken werden die Stauseepläne Mitte Juni öffentlich aufgelegt. Einig zeigt sich das Tal indes noch nicht: «Im Volke von Ursem herrscht heute zum Projekt noch keine einheitliche Meinung. Jeder rechnet nach seinen allfälligen Sonderinteressen», heisst es am 26. Juni im UW. Nur wenig später meldet sich auch der Hotelierverein zu Wort. «Die Hoteliers erklären sich sympathisch diesem Projekt gegenüber», heisst es in einem offenen Brief. Die Gastronomen erhoffen sich vom Stausee Vorteile, zumal der Tourismus nach dem ersten Weltkrieg nicht so recht in Schwung kommen will und zahlreiche Hotels hoch verschuldet sind. Mit Vorträgen und Zeitungsartikeln macht CKW-Direktor Fritz Ringwald vor und nach seinem Vortrag in Andermatt am 18. Juli Werbung für das Stauseeprojekt. Selbst eine Postkarte mit «Neu-Andermatt. wird gedruckt.
Der Widerstand im Tal nimmt aber zu. «Bauern und’Volk von Ursern, wehret Euch, ehe es zu spät ist», rät ein Leserbriefschreiber im UW im Juli 1920. Auch die UW-Redaktion schlägt sich auf die Seite der Gegner. Dennoch gewährt man dem CKW Raum für eine Gegendarstellung. Den Vertriebenen werde man natürlich wieder Heimstätten beschaffen, heisst es von der Projektleitung. Und: «Der Kulturboden in Ursern ist denn doch nicht so gut und ausgedehnt, dass durch seinen Verlust die Ernährung des Schweizervolkes gefährdet würde.» Alle Propaganda nützt nichts. Am 22. August sagt die Bürgergemeinde Andermatt mit 120 zu sieben Stimmen Nein zum Projekt und erhebt Einsprache. Am 16. September gleichen Jahres doppelt die Talge- meinde mit einer Protestnote nach. Danach wird es in der Presse stiller um das Projekt. Zwar werben die CKW weiter für den Stausee und auch einzelne Urschner wehren sich für das Projekt. Dennoch versanden die Pläne – wohl auch, weil die CKW andere Projekte vorantreiben.
Neuauflage enden in Krawall
In den 1930er-Jahren werden erneut Pläne für ein Ursernkraftwerk erstellt – unter anderem von den SBB. 1941 schliesslich wagt das CKW mit Fritz Ringwald einen zweiten Versuch für den Stausee. Rund 200 Meter hoch soll die Staumauer werden. Bis zu 3 Milliarden Kilowattstunden Strom könnte damit produziert werden. Doch der Widerstand im Urserntal ist ungebrochen. Lange tobt der Propagandakampf für und gegen das Projekt. Am 19. Februar 1946 jagen bis zu 300 Andermattner CKW-Ingenieur Karl Fetz, der für den Landkauf verantwortlich ist, aus dem Dorf. Das Büro von CKW-Architekt Ramseyer wird verwüstet. Dieser «Krawall» bedeutet den Höhepunkt des Widerstandes gegen das Stauseeprojekt. Erst Anfang der 1950er-Jahre wird das Projekt allerdings aufgegeben, nachdem klar ist, dass der Urner Landrat wohl die entsprechende Konzession verweigern wird. Nur kurz darauf reichen die CKW ein neues Konzessionsgesuch ein – diesmal für die Göscheneralp. Der Unterschied zu Ursern: Hier wird ein Dorf tatsächlich unter Wasser gesetzt.
Gerichtsfälle nach der «Krawallnacht»
Zwei Jahre nach der «Krawallnacht» von Andermatt 1946 müssen sich 20 Urschner – darunter Korporationspräsident Alfred Regli – vor Gericht verantworten. Die Anklage lautet unter anderem auf Hausfriedensbruch und Anstiftung zum Aufruhr. Zwei der Angeklagten haben ihrerseits die beiden Opfer der Krawallnacht wegen falscher Anschuldigung verklagt. Der Umer Staatsanwalt stellt sehr milde Strafanträge, die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Alfred Regli etwa wird tatsächlich freigesprochen. Andere Angeklagte erhalten milde Strafen. – Der vertriebene Ingenieur Kar! Fetz hingegen muss eine Geldbusse von 50 Franken bezahlen, Architekt Ramseyer sogar 120 Franken. Das Urteil stösst in der Schweiz auf harsche Kritik und wird 1949 vom Bundesgericht aufgehoben. Schliesslich werden beide freigesprochen und erhalten von der Korporation Ursem eine Entschädigung von 30’000 Franken. (raa)
Urner Wochenblatt, Samstag, 18. Juli 2015
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